Vortrag

Freimaurerei als Lebensschule

Vortrag von H. B. an der Volkshochschule Zürich am 26. Mai 2011

Das Leben ist eine permanente Schule.

  • Schon kleine Kinder müssen lernen zu gehen, zu sprechen, sich zu sozialen Wesen entwickeln.
  • Später müssen sie die Pubertät bewältigen.
  • Es folgen Lehre/Ausbildung/Beruf.
  • Die Familie wird gegründet, auch sie ein nicht zu unterschätzender Lehrplatz.
  • Das Leben beschert Erfolge: daran kann man sich freuen, Nutzen ziehen. Man muss aber auch lernen, deswegen nicht übermütig zu werden und auch die unvermeidlichen.
  • Misserfolge verarbeiten. Familiäre und berufliche Schlappen, Krankheit, Verlust von nahestehenden Menschen meistern, es folgt die Ahnung des eigenen Todes.

Der Weg durch das Leben ist eine permanente Schule. Viele lassen sich auf diesem Weg unreflektiert, unbewusst treiben, in Hoffnung und Sehnsucht von Geburt bis Tod. Sie beschränken sich auf biologische und materielle Notwendigkeiten. Andere bemühen sich um möglichst vollständige und umfassende Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Eine Wegleitung dazu bietet die Freimaurerei an. Sie sensibilisiert die Fragen:

  • Wer bin ich eigentlich?
  • Was will ich erreichen?
  • Welches sind die Gesetzmässigkeiten, welche die Welt regieren?

Die Freimaurerei (FM) hat keine Antworten auf diese Fragen. Sie hat keine Patentrezepte zur Bewältigung des Daseins. Aber die Freimaurerei gibt mit ihrem Lehrgebäude Hinweise, wie dieser Weg mit mehr Erfolg beschritten werden kann. Sie macht aufmerksam auf menschliche Stärken und Schwächen, gibt Anregungen und Werkzeuge, um das Leben im Diesseits gut zu meistern.
Kern freimaurerische (fm.) Tätigkeit ist Selbsterkenntnis, Selbstverwirklichung und Selbstvervollkommnung. Vieles steckt in uns selbst. Wir müssen nur hinhören. Antworten kommen aus unserem Innern.
Die FM ist optimistisch. Sie glaubt an das Schöne, an den Sieg des Guten. Sie glaubt an den Menschen.

Die Wurzeln der Freimaurerei

Als Geburtsdatum der modernen FM gilt der Johannistag 1717. An diesem Tag schliessen sich in London drei Bauhandwerkszünfte, wir nennen sie operative Logen, zu einer Grossloge zusammen.
Diese neuen Logen – sie heissen jetzt spekulative Logen – behauen nicht mehr Steine und schichten sie zu einem Bauwerk aufeinander. Das Wissen der Handwerksleute wird im übertragenen Sinn gedeutet. Gebäude und Stein werden verstanden als Makrokosmos und Mikrokosmos, als Welt und Mensch. Daran gilt es fortan zu arbeiten. Freimaurerei wird zur Lebensschule.
Diese Entwicklung kam nicht über Nacht. Sie hatte sich seit Langem angebahnt und schöpfte aus zwei Wurzeln:

  • Aufklärung
  • Westliche Esoterik

Die Aufklärung ist eine Bewegung des 18. Jahrhunderts, des Siècle des lumières, Englisch: the enlightment. Die Zeit der Glaubenskämpfe, Hungersnöte und der Pest ist vorbei, man träumt von einer besseren Welt. Aufklärer setzen den Verstand des Menschen ins Zentrum und prophezeien eine freie, gerechte Welt.

Für Kant ist Aufklärung „der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich des Verstandes ohne Leitung eines Andern zu bedienen“. Das ist eine Absage an jede Dogmatik, wie sie die Kirche vorschreibt. In England deklariert John Locke, dass der Mensch von Natur aus frei ist und nicht ohne seine Zustimmung in politische Gewalt genommen werden kann. Die Allmacht der absolutistischen Monarchen widerspricht den natürlichen Rechten der Bürger. Monarchen sitzen auf veralteten Privilegien, sind Despoten und Tyrannen.

Die Bevormundung durch die Religion wird kritisiert. „Ecrasez l’infâme“, ruft Voltaire. Er meint damit die Ansprüche und Arroganz der Kirche. Der Weg ins Himmelreich führt nicht mehr über die Kleriker. Die Menschen selbst müssen ihr Tun verantworten und die Welt mit Verstand statt kirchlichen Dogmen neu entdecken. Es braucht eine neue Ethik: Christlicher Glaube ja, aber richtig. Christ und Bürger: Gutes tun, das Reich Gottes auf Erden verwirklichen.

Newton und Descartes begründen mathematisch-logisches Denken und ermöglichen so wissenschaftliche Entdeckungen. Die Aufklärung wird zur Geburtsstunde der Naturwissenschaften. Durch Beobachtung der Natur und Menschen und durch Experimente entstehen die modernen Wissenschaften. Beispiel: aus der Alchemie wird die Chemie.

Nun sind die Menschen wissbegierig, das neue Denken wird eifrig diskutiert. Bisher gab es keine Gelegenheit zu gesellschaftlichem Zusammenkommen es sei denn in der Kirche.

Neu ist jetzt, dass die verschiedensten Gesellschaften entstehen. Man trifft sich in Salons und Kaffeehäusern. Das 18. Jh. ist auch das gesellige Jahrhundert genannt worden. Diese Orte sind Beförderer von Reformen und Aufklärung. Bedeutende Organisationen sind:

  • in England die „Royal Society“,
  • in Frankreich die „Académie Française“ und die Salons,
  • bei uns die „Grütli Gesellschaft“ und die „Helvetische Gesellschaft“
  • und überall entstehende Freimaurerlogen

Die Logen sind wesentliche Träger der neuen Gedanken. Hier gilt Toleranz und Gleichberechtigung. Der Handwerker kommt neben dem Herzog zu sitzen, der Katholik neben den Protestanten oder Juden. Die Rechte des einzelnen stehen über ständischen und konfessionellen Unterschieden. Besonderen Wert wird auf die Verbreitung von Wissen gelegt, auf die Förderung des Schulwesens, den Unterhalt von Bibliotheken. Hier werden auch Ideen entwickelt, wie das neue Wissen wirtschaftlich erfolgreich eingesetzt werden kann. Es geht also nicht nur um schöngeistige Diskussionen, sondern auch um handfeste praktische Überlegungen. Hydrologie, praktische Anwendung der Mechanik und erste Gedanken zu erfolgreicher Nationalökonomie entstehen in diesem Umfeld.

Es wird ein aufgeklärtes Christentum vertreten, Wohltätigkeit ist eine Verpflichtung. Durch Vernunft erlangt der Mensch bessere Moral, Glück, Freiheit. Kants kategorischer Imperativ fasst dies so zusammen: „Handle so, dass die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte“.

Aussenstehende Historiker, also nicht Freimaurer, haben festgestellt, dass die Utopie der Aufklärung ohne die Logen nicht hätte umgesetzt werden können. Die führenden Köpfe sind diesem neuen Denken verpflichtet. Aber noch sind all die Antworten, welche wir heute kennen, nicht gegeben. Mit Suchen und Versuchen werden die Gesetzmässigkeiten der Natur erforscht. Mathematik und Mechanik sind die Grundlage zum Verständnis der Welt.

Die alten Wahrheiten bilden die Grundlage für das neue Denken. Von ihnen geht man aus, beobachtet und experimentiert und vergleicht mit dem bisherigen Wissen. Einer der ersten Naturwissenschaftler, Newton, besass eine der grössten Bibliotheken seiner Zeit über Alchemie. Er suchte nach einer Synthese der beiden Denkweisen. Man traf sich in der Royal Society in London und diskutierte. Dort sassen auch die Gründungsväter der modernen Freimaurerei. Rund ein Viertel der frühen FM gehören ihr an.

Unter ihrem Einfluss einstanden die „Konstitutionen der Freimaurer“, welche 1723 veröffentlicht wurden und bis heute die Grundlage dafür bilden, was als reguläre Freimaurerei bezeichnet wird. Ihre wesentlichen Protagonisten sind zwei protestantische Pfarrer: James Anderson (Ca. 1678 bis 1739) in als Autor und John Theophilus Desaguliers (1683 bis 1744) als ihr spiritus rector. Als Grundlage dient ihnen eine Sammlung von alten Pflichten, die sogenannten „old charges“, das sind die überlieferten Geschichts- und Gesetzbücher der operativen Bauhandwerker. Sie führen tief ins Mittelalter zurück. Sie sollen umgeschrieben und der neuen Denkweise angepasst werden. Alte und neue Vorstellungen vermischen sich. Einerseits wird die Bedeutung von Mathematik und Geometrie hervorgehoben. Euklid und seine Gesetze werden beschrieben, andererseits vermutet man insbesondere auch in der Baukunst verborgenes Wissen und hofft, in magischen Symbolen die wahren und letzten Weisheiten zu finden. Die ursprünglich einfache Aufnahmezeremonie für einen Bauhandwerker wird entsprechend ausgebaut und in den folgenden Jahren zu dem umfassenden dreistufigen Freimaurerritual ausgebaut, welches wir im Wesentlichen noch heute pflegen.

Westliche Esoterik und ihre Elemente dieses alten Wissens waren in der Hermetik aufgehoben. Nach dem Fall Konstantinopels 1453 kommen griechisch sprechende Gelehrte in den Westen und bringen ihre Bücher mit, welche die Weisheiten der Antike enthalten. In den neuplatonischen Akademien in Florenz werden die Bücher übersetzt. Die Antike wird wiederentdeckt. Damit beginnt die Renaissance. Alchemie, Kabbala, die Mysterienbünde sind ihre Bestandteile. Sie bilden die Wurzeln der westlichen Esoterik. Auch der Stoizismus, die Stoa, welche die Aufklärung und die Freimaurerei stark beeinflussen wird, kommt wieder zu Bedeutung.

Vom Studium der vermeintlichen Geheimnisse der Antike, im besonderen der Architektur, erhoffte man sich, den geheimen Code der Natur zu knacken, und mit dem Wiederentdecken der alten Orakel die Sprache Gottes selbst zu finden. Diese Hoffnung, im Erforschen der verborgenen Geheimnisse der Natur deren Mechanismus zu entdecken, steckt tief in der Optik dieser frühen Naturwissenschaftler und auch in der Philosophie und Symbolik der Freimauerei.

Welches sind nun Elemente dieser westlichen Esoterik oder Hermetik, welche in die Freimaurerei eingeflossen sind?
Es sind dies:

  • Alchemie
  • Gnosis
  • Kabbala

Das Wissen der Alchemie ist von den Ägyptern in die Antike eingeflossen. Zweck der Alchemie ist es, ein Material von tieferer auf die höhere Ebene zu transmutieren, z.B. aus Blei Gold zu machen. Das Rohmaterial, die prima materia, z.B. Heilkräuter und Wurzeln, werden bearbeitet. Sie werden pulverisiert, erhitzt, verdampft, destilliert, eingeäschert. Sie durchlaufen die Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer.

Der Erfolg stellt sich nur ein, wenn der Alchemist sich während des Prozesses selbst läutert und die Hilfe Gottes hat. Erst wenn er selbst seine schlechten Gewohnheiten, Ängste und Vorurteile abgelegt hat, beherrscht er die königliche Kunst. Alchemisten wollen das Physische mit dem Geistigen verbinden. Das Resultat des alchemistischen Prozesses ist die Schaffung des Steins des Weisen. Es waren wohl eher die Scharlatane unter ihnen, welche sich brüsteten, Goldmacher zu sein und ewige Jugend versprachen. Alchemisten verwenden auch geometrische Symbole: Das Quadrat für die physische Welt, den Zirkel für die spirituelle. Jedem Freimaurer gehen Lichter auf, wenn er so etwas hört. Aber davon später.

Die Gnosis ist eine weitere verborgene Wissenschaft. „Gnosis“ ist griechisch und steht für göttliches Wissen. Alles ist Gott, aber wir sind gefangen im menschlichen Körper, wie in einem Grab oder Gefängnis. Bis wir den Durchbruch ins Bewusstsein vollziehen, sind wir in einer persönlichen Hölle gefangen. Durch Bewusstsein kommt der Gnostiker zur Erkenntnis, dass alles um uns eigentlich der Himmel ist, Licht und hell. Dieses Erkennen ist Gnosis. Gnosis ist der Weg von der Finsternis zum Licht. Wir kommen auf sie zurück.

Die Kabbala ist jüdischen Ursprungs. Aus hebräischem Texten werden durch Berechnungen geheime Botschaften aus Buchstaben- und Zahlen herausgelesen. Auch hier geht es letztlich darum, eine unio mystica mit dem Göttlichen zu erreichen.

Diese verborgenen, esoterischen Wahrheiten sind in der weiteren Entwicklung der europäischen Geschichte zwar unterlegen. Das heisst aber nicht, dass sie nicht berechtigt wären. Bis heute wissen wir nicht alles und längst ist klar, dass sich nicht alles mit menschlicher Vernunft erklären lässt und sich auch nie lassen wird. Es ist die einmalige Leistung der Freimaurerei, diese beiden Elemente, Rationales und Irrationales miteinander zu verbinden.

Das Medium, dessen sich die Freimaurerei dazu in erster Linie bedient, ist ebenso einmalig, nämlich das Ritual. Das freimaurerische Ritual ist ein Vorgang von Erleben und Belehren. Es bewirkt keine Trance. Es wird kein Weihrauch verwendet. Man erlebt es wach und aufmerksam. Und weil es ein Erlebnis ist, kann es auch nicht erzählt werden. Nacherzählt wirkt es banal, unverständlich, lächerlich.

Schon Abbé Gabriel Louis Calabre Pérau hat 1744 in seinem Buch „Le Secret des Francs-Maçons“ geschrieben: „Für den Aussenstehenden ist ein Freimaurer immer ein Problem, das er nie ganz lösen kann, ausser er wird selbst Freimaurer“.

Aber dem Ritual ist ja ein eigener Abend gewidmet. Wir brauchen also darauf nicht weiter einzugehen. Es bleibt mir die Aufgabe, zu versuchen, Ihnen darzulegen, wie diese Gedankenwelt von Aufklärung und Esoterik die Freimaurerei zu einer Lebensschule macht. Dazu wollen wir versuchen, die FM zu definieren. Eine häufig verwendete Definition von Freimaurerei lautet:

FM ist ein eigenartiges Lehrgebäude der Sittlichkeit,
in Gleichnisse gehüllt und mit Sinnbildern erklärt.

Der ihr zu Grunde liegende Text ist Englisch. Die Wortwahl ist etwas anders, ich zitiere ihn daher ebenfalls:

Freemasonry is a peculiar system of morality,
veiled in allegories and illustrated by symbols

Es gilt also, zunächst ein paar Begriffe zu klären, nämlich:

  • Sitte
  • Moral
  • Ethik

Auf die Gleichnisse und Sinnbilder komme ich anschliessend zu sprechen. Heute kann man Definitionen ja einfach abrufen im Internet, bei Wikipedia etwa. So habe ich es gemacht und zitiere daher:

Sitte ist der auf Tradition und Gewohnheit beruhende durch moralische Werte, Regeln und Normen bedingte an einer bestimmten sozialen Gesellschaft übliche Wertekanon.“

Zugegeben, der Satz ist etwas ineinander geschachtelt. Nachdem – immer noch laut Wikipedia – Sitte und Moral weitgehend gleichbedeutend sind, schauen wir uns auch die Definition von Moral an:

Moral ist das Handlungsmuster einer bestimmten Kultur.“

Ethik ist die Antwort auf die Frage, wie in bestimmten Situationen gehandelt werden soll.

Kant bringt Ethik so auf den Punkt: „Was soll ich tun?“

Verschiedene Gesellschaften können demnach verschiedene Sitten haben. Damit kommen wir mit der Globalisierung laufend in Kontakt. Wir wundern uns, weshalb die Chinesen kein Interesse an unserer Vorstellung über individuelle Freiheiten haben und die Muslime die Rolle der Frauen anders sehen als wir. Sie fühlen sich deshalb nicht amoralisch.

Auch unsere Moral ist geprägt von unserer Geschichte, von den Zehn Geboten, der Bergpredigt, der Aufklärung und daraus heraus der Menschenrechtsdeklaration. Wir wissen im Grunde unseres Herzens, was Sittlichkeit ist. Wiederum ist es Kant, der es klar wie kaum ein anderer formulierte:

„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt immer mit neuer Bewunderung:
Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“

Ziel freimaurerischen Bestrebens ist es, dieses moralische Gesetz in uns zu entdecken und die Antwort zu finden auf die Frage: Was soll ich tun? Die Werte zu dieser Ethik stammen aus der Aufklärung. Sie lauten:

  • Toleranz
  • Humanität
  • Kosmopolitismus (Brüderlichkeit)

Toleranz: Jeder Mensch ist ein soziales Wesen, das Anrecht hat auf Gewissensfreiheit und Selbstverwirklichung. Daher gilt der Respekt vor Überzeugungen des andern. Aus der Überzeugung heraus, dass man mit guter Absicht verschiedene Meinungen vertreten kann, werden Politik und Religion nicht angesprochen. Allenfalls bestehende Missstände sollen nur mit würdigen Mitteln bekämpft werden. Vorurteile sollen erkannt und abgelegt werden. Sie hemmen den Zugang zu besserem Wissen.

Der Freimaurer Gotthold Ephraim Lessing hat diesen Toleranzgedanken vortrefflich dargestellt, etwa in Nathan dem Weisen. Dort diskutieren ein Jude, ein Christ und ein Moslem, welcher nun die Wahrheit besässe. Jeder besitzt sie, ist die Schlussfolgerung. „Es strebe jeder seiner eigenen, von Vorurteilen freien Liebe nach.“

Humanität: FM bauen an einem Tempel der allg. Menschenliebe, der Humanität. Humanität beginnt beim FM mit der Erkenntnis seiner selbst und seiner Leidenschaften, Defekten und Fähigkeiten. Der Mensch ist vernunftbegabt, er ist aber auch sterblich. Durch die Übung in Selbsterkenntnis und Selbstveredelung können persönliche menschliche Fortschritte erzielt werden.

Die Folge daraus ist ein bewussteres Investieren der verfügbaren Zeit und Kraft und erhöhte Aufmerksamkeit auf die Unzulänglichkeiten der Umwelt. Menschlichkeit, Mitgefühl, Mitleid gehören dazu, und Wohltätigkeit. Dabei geht es gar nicht zuerst um materielle Hilfe. Diese wird in unserer Gesellschaft durch ein Netz der Sozialhilfe gut gesichert. Es gilt, den Leiden der Mitmenschen nicht untätig zuzusehen und menschlich beizustehen. Der Respekt der Menschenrechte, der Gedanken- und Gewissensfreiheit gehört ebenso dazu. Cicero hat Humanität als die Ausbildung von Gemüt und Verstand verstanden.

Kosmopolitismus: In einer Freimaurerloge begegnen sich Menschen mit unterschiedlichem Beruf, Alter, Glauben, Nationalität und Interessen, geeint durch den gemeinsamen Willen, sich und die Welt voranzubringen. Es gilt die Achtung vor dem Nächsten ohne Rücksicht auf Geburt, Stand, Religion.
Wenden wir uns nun den Symbolen zu. Nochmals zur bereits zitierten Definition der Freimaurerei sei dies festgehalten:

FM ist ein eigenartiges Lehrgebäude der

Sittlichkeit,
in Gleichnisse gehüllt
und mit Sinnbildern erklärt.

Gleichnisse und Sinnbilder: Im englischen Text heisst das Begriffspaar Allegorie und Symbol.

Ein Gleichnis (Allegorie) ist eine indirekte Aussage: mit einem Zeichen wird etwas anderes gemeint ist als was gezeigt wird. Beispiele: Die Figur Justitia mit verbunden Augen und Waage ist eine Allegorie der Gerechtigkeit. Die Figur der Helvetia ist eine Allegorie für die Schweiz

Das Sinnbild (Symbol) ist ein Zeichen, bei dem der tiefere Sinn nur angedacht ist. Das Symbol ist ein Mittel, um etwas Geistiges sinnlich wahrnehmbar zu machen. Beispiele: Die Freimaurerschurz als Symbol für die Arbeit, die weissen Handschuhe, welche FM bei ihren rituellen Arbeiten tragen, als Symbol dafür, dass ihre Handlungen rein bleiben sollen.
Die freimaurerische Botschaft wird wesentlich durch Symbole vermittelt. Damit ist auch klar, weshalb sie so undogmatisch sein kann. Ein Symbol ist nie eindeutig festgelegt. Es muss immer individuell interpretiert werden. Und es wird überall verstanden. So zum Beispiel auch die die Symbolik des Tempelbaus:

Die Symbolik der Freimaurerei

Sie entstammt dem Bauhandwerk der mittelalterlichen Kathedralenbauer. Aber eben: Die Freimaurer bauen nicht mehr Kathedralen für die Kirche und die Gläubigen. Ihre Kathedrale ist ein Tempel der Humanität, ihre Steine sind die Menschen. Je besser jeder seinen Stein behaut, desto schöner wird das Gebäude, je vollkommener die Gesellschaft.

Der Tempel selbst ist ein Symbol. Es ist der Ort, wo sich das Göttliche auf Erden manifestiert, der Sitz Gottes auf Erden. Und Gott, das ist für den Freimaurer der ABAW, das Symbol für das Gute, Wahre, Ewige, Helle, Schöne, jener Funke des Lichtes in jeden Menschen Brust, welches im Laufe des Lebens unter den Vorurteilen und Unzulänglichkeiten hervorzuholen, zu entfachen und sich ihm zu nähern gilt.

Vorbild aller Tempel ist der erste Tempel Salomons. Dazu haben Sie ja vor einer Woche Ausführliches vernommen. Ich wiederhole nur dies, um meinen Gedankengang weiter zu entwickeln: Der Tempel Salomons versinnbildlicht das Schicksal des jüdischen Volkes, welches sich von Gott abgewandt hat. Zur Strafe wurde er zerstört. Als das jüdische Volk zu Gott zurückgekehrte, konnte der Wiederaufbau beginnen. So ist der Tempel ein Sinnbild für das Volk, aber auch für das Verhalten des Menschen.

In der den gotischen Kathedralen, insbesondere in der Ile-de-France, in St. Denis, Paris, Chartres, Reims, Amiens usw, finden wir die Bausymbolik, wie sie die Freimaurerei nutzt, so sehr ausgeprägt, dass man sagen kann: Ein Gang durch die gotische Kathedrale ist in seiner Wirkung vergleichbar mit einem freimaurerischen Ritual.
Harmonie und Licht sind die prägenden Merkmale. Das Licht als Symbol für das Wahre, Gute, Schöne, die Erkenntnis, Weisheit, Freude. Sie vertreibt die Finsternis, das Böse, Leid. Ein Gang durch eine gotische Kathedrale ist ein Gang durch das Leben von der Dunkelheit zum Licht. Gott ist die Quelle des Lichts, das aus dem Osten kommt. Der Tempel wird zu einem Ort jenseits von Raum und Zeit.

Ein Gang durch die Kathedrale wird zum Gang durch das Leben, von der Finsternis des Unwissens und Chaos zum Licht der Weisheit und Wahrheit. Die Harmonie des Raums, das mystische Licht vom Osten ist ein gewaltiger Aufsteller auf diesem Gang.
Genau so wirkt die freimaurerische Arbeit. Teils ist sie erfassbar, teils bleibt sie unerklärlich. Jedenfalls vermittelt sie Freude und macht Mut. Die Symbolik des Tempelbaus hat auch Philosophen, Architekten und die Väter der aufkommenden Freimaurerei beschäftigt.

Nochmals zu Isaac Newton, gemäss Wikipedia einer der grössten Wissenschaftler. Ihm verdanken wir Entdeckungen in Gravitation, Mechanik, Optik und Mathematik. Er war überzeugt, dass den Massen des Tempels von Salomon ein mathematisches Gesetz zu Grunde lag, dessen Entschlüsselung das Geheimnis von Gott und dem Universum freigeben würde.

Auch Bacon teilte diese Auffassung in seinem New Atlantis. Zwar ist nicht klar, ob diese Forscher FM waren. Jedenfalls aber hat die FM diese Idee übernommen. Für die Freimaurer ist das Universum symbolisch dargestellt im Tempel, welcher ebenfalls als heiliger Raum gilt; und in den Ritualen deuten laufend mathematische, astronomische, geometrische und architektonische Interpretationen auf das Werk des Schöpfers hin.

1666 brannte fast ganz London ab. Als Erbauer der meisten neuen Gotteshäuser wurde der Architekt Christopher Wren eingestellt. Auch für ihn galten diese Überlegungen. Er und sein Hauptwerk, die grossartige St. Paul’s Cathedral in London, werden in den alten Pflichten entsprechend analysiert und hochgelobt. Und selbstverständlich entgeht auch die Analogie nicht zwischen dem zerstörten und wiederaufgebauten Tempel Salomons und der St. Paul’s.

Newton wie Wren arbeiteten bei ihren Experimenten mit der alten und der neuen Wissenschaft. Newton verglich die mit seinen modernen Methoden des Experiments und der Empirik erworbene Erkenntnis mit der alten Wissenschaft der Alchemie. Er hoffte, die alten Rezepte in den neuen Erkenntnissen wiederzufinden und zu verbinden. Die Resultate seiner Erkenntnisse änderten die bisherigen Ansichten und beeinflussten stark die Entwicklung des freimaurerischen Rituals im 18. Jahrhunderts.

Die nachfolgende Stilepoche des Palladianismus wird sogar als der freimaurerische Stil bezeichnet. Andrea Palladio war ein italienischer Renaissancearchitekt, der vorwiegend im Veneto tätig war. Sein Baustil orientierte sich an den antiken Vorbildern der griechischen und römischen Tempel mit ihren klaren Formen und dekorativen Säulen. In freimaurerische Nähe rückte er, weil er im Gegensatz zum überschwänglichen, katholischen Baustil des Barock stand.

Er wurde von den aufklärerischen Kreisen bevorzugt. In England, in überwältigendem Mass aber in den englischen Kolonien Nordamerikas und den bald daraus entstehenden Vereinigten Staaten ist dies der beherrschende Stil. Denken sie an das Kapitol oder das Weisse Haus, Montiel, der Wohnsitz von Thomas Jefferson. Sämtliche Regierungsgebäude und repräsentativen Privatbauten und Kirchen sind im Georgia und Federal Stile gebaut. Überhaupt ist ja die Entstehung der Vereinigten Staaten eine eigentlich freimaurerische Geschichte. Die Unabhängigkeitserklärung, die Verfassung, die Bill of Rights ist im Wesentlichen das Werk von Freimaurern und von den alten Pflichten mit beeinflusst. Aber das gehört nicht hierher. Es wäre ein Vortragszyklus für sich.

Freimaurer versammeln sich für ihre Arbeit im eigens dafür errichteten Tempel, der mit freimaurerischer Symbolik ausgestattet ist. Dieser Raum bildet den Rahmen für fm. Kontemplation. Ich habe das so ausführlich dargestellt, weil diese Gedanken auch heute noch die Grundlage liefern für das, was die Maurerei seinen Mitgliedern bieten kann.

Einübungsethik nennen wir diese Tätigkeit: Bauen am Tempel der Humanität. Arbeit an sich selbst, d.h. Bearbeiten des eigenen rauen Steins, damit er zu einem brauchbaren Stück, einem wertvolleren Teil am Tempel der Menschlichkeit werde. Die Arbeit geht vom rauen zum kubischen Stein.

Steine wurden schon in der Frühzeit der Menschheit verehrt, möglicherweise als Wohnsitz der Geister. Denken wir an die mysteriösen Menhire. Im Tessin gibt es die Strade delle Pietre, wo als ehemals heilig geltende Steine markiert sind. Die Legenden dazu erzählen, dass sich hier in keltischen Zeiten vielleicht Geister versammelten und Messen abgehalten wurden. Der Stein ist die prima materia, das Rohmaterial, aus dem alles geschaffen werden kann. In der Kathedrale zählt jeder Stein. Er muss passgenau sein und das erhabene Bauwerk mittragen.

Der raue Stein ist das Sinnbild von sich selbst. Der FM wird aufgefordert, ihn bis auf den Kern zu behauen, damit er zu seiner schönsten Form komme und eine wichtige Stelle am Bau einnehmen kann. Diese Arbeit erfordert Beharrlichkeit. Der Kampf mit sich selbst ist oftmals schwierig. Nicht von allem unnötigen Ballast trennt man sich leicht.
Es sind folgende Ziele, welche angestrebt werden:

  • Die eigenen Stärken und Schwächen kennenlernen.
  • Leidenschaften kontrollieren und Stärken einsetzen.
  • Kritisch und selbständig denken und handeln.
  • Bewusst die Chancen und Gefahren einschätzen.
  • Immer wieder die Tugenden üben, zu welchen sich die FM an ihren Sitzungen bekennen: Toleranz, Humanität, Weltoffenheit.

Der kubische Stein ist die angestrebte Form, die Perfektion, der David des Michelangelo. In der Alchemie ist es der Stein des Weisen, es ist der Schlussstein im Gewölbe, Die Seele hat jene Vollkommenheit und Harmonie erlangt, von der Lessing sagt, dass sie vor Gott und den Mitmenschen als wohlgefällig erkannt wird. Sie ist im Gleichgewicht mit sich selbst. Er ist sich seiner Verantwortung gegenüber den Mitmenschen bewusst und ein wertvolles Glied der Gesellschaft.

Hinweise, nach welchen Kriterien diese Reise durch das Leben gehen soll, liefern die Symbole, mit welchen die fm. Tempel ausgestattet sind und den Weg weisen. Die Symbolik der FM ist umfassend und begegnet auf Schritt und Tritt.

Sämtliche Werkzeuge der Maurer werden herangezogen, z.B. der Hammer als Symbol für das weise und kraftvolle Zuschlagen des Maurers auf seinem Stein. Auch die fm. Bekleidungsstücke haben, wie erwähnt, symbolische Bedeutung.

Die drei Kardinaltugenden: Gerechtigkeit, Mässigung, Weisheit. Justitia, Moderatio, Sapientia werden erwähnt. Falls Sie im Anschluss an diese Ringvorlesung an der Besichtigung des FM-Tempels auf dem Lindenhof teilnehmen werden, werden sie diesen Devisen begegnen.

Von besonderer Bedeutung ist die Lichtsymbolik. Auf sie möchte ich nun besonders eingehen und herausgreifen aus der Fülle anderer Symbole, die ebenfalls geeignet wären, das fm. Lehrgebäude zu illustrieren.

Das Licht ist der „Urquell allen Seins.“ Die Sonne spendet Leben und Wärme. Das Licht fördert die Wahrheit zu Tage. Das Licht ist göttlich. Licht führt zu Wissen und Erkenntnis. Licht schafft Klarheit. Zum Licht strebt der suchende Mensch. Das Licht wurde schon in den antiken Mysterienkulten gefeiert und ist vermutlich über die Gnosis in die FM eingeflossen.

Neben dem absoluten, reinen Licht aus dem Osten verehrt der FM das Licht in weiteren Symbolen: Da gibt es die drei grossen Lichter: Bibel, Winkelmass und Zirkel. Diese drei Symbole werden oft auch in freimaurischen Darstellungen verwendet. Die geöffnete Bibel, darüber ein Winkelmass und ein geöffneter Zirkel.

Zu erwähnen sind auch die drei kleinen Lichter: Weisheit, Stärke, Schönheit. Zunächst betrachten wir aber die drei grossen Lichter:
Die Bibel ist das Sinnbild für das göttliche Gesetz. Es gibt kein fm. religiöses Dogma. Aber die FM verehrt im allmächtigen Baumeister aller Welten ein höheres Wesen. Es ist eine individuelle Ahnung eines Transzendenten, das in Symbolen ausgedrückt wird. Für fm. Ethik ist jedoch göttliches Wirken Voraussetzung für ethisches Handeln. Eine gute Tat ist erst dann möglich, wenn sie gewertet werden kann. Es muss ein vernünftiges Prinzip der Weltordnung vorhanden sein. Das Bildnis, welches sich der FM aus dem Göttlichen macht, ist in jeder Religion akzeptabel.

In den alten Pflichten von 1723 heisst es: „Der Maurer ist durch seine innere Haltung verpflichtet, das Moralgesetz zu befolgen; und wenn er die Kunst recht versteht, wird er niemals ein einfältiger Atheist sein, noch ein irreligiöser Freigeist. Er ist jedoch nur der Religion verpflichtet, in der alle Menschen übereinstimmen, seine besondere Meinung aber ihm selbst zu überlassen. Das heisst, sie sollen gute und redliche Männer sein von Ehre und Rechtschaffenheit, durch welche Glaubensbekenntnisse oder Anschauungen sie sich auch sonst unterscheiden mögen.“

Die Bibel liegt in jeder Loge auf. Sie ist – wie soeben gesagt – ein Symbol für das göttliche Gesetz. FM ist eine Schöpfung unserer jüdisch-christlich abendländischen Tradition. Daher stammt auch die freimaurerische Symbolik aus diesem Kulturgut, mit welchem wir verbunden sind. Vorstellungen aus anderen Kulturkreisen sind uns schwerer zugänglich.

Das ist kein Werturteil. Die Logen stehen Angehörigen aller Glaubensgemeinschaften offen. Aus Respekt vor dem Bekenntnis Andersgläubiger wird oftmals bei deren Anwesenheit auch deren heiliges Buch aufgelegt.
Die Freimaurer der Aufklärung haben vor allem den Deismus als religiöse Vorstellung im Auge gehabt. Gott lässt sich nicht mit Vernunft erklären. Dass Gott nicht bewiesen werden kann, ist aber kein Grund anzunehmen, dass es ihn nicht gäbe. Für den Deisten gibt es zwar ein göttliches Gesetz. Aber der ABAW offenbart sich nicht. Er greift nicht für jedes und alles ins Weltgeschehen ein.

„Wo eine Uhr tickt, muss auch ein Uhrmacher sein“, sagte Voltaire. Doch eine Deutung ist Sache jeden einzelnen. „Es soll jeder nach seiner Façon selig werden können“ hat der Freimaurer Friedrich der Grosse gemeint.

Das Winkelmass ist das Symbol für Vernunft und Gesetzmässigkeit, das die menschlichen Handlungen nach Rechtwinkligkeit, d.h. nach Gerechtigkeit und Menschlichkeit ordnet.
Der Zirkel dreht einen Kreis, welcher ohne Anfang und Ende ist. Wir sind ihm bereits in der Alchemie begegnet. Er versinnbildlicht vieles, im Gegenstück zum Winkel insbesondere auch die Gefühle. Mit seinen allumfassenden Schenkeln schliesst er die ganze Menschheit ein zu einer seelischen Bruderschaft.

Nun die drei kleinen Lichter: Weisheit, Stärke und Schönheit sind die drei Säulen, auf denen der symbolische Bau ruht. Sie symbolisieren die Harmonie der Kräfte, Verstand, Wille und Gemüt. Mit der Schönheit wird der FM daran erinnert, dass er aus dem groben Stein eine schöne Statue fertigen kann.

Der Steinmetz, also der Freimaurer, ist Prototyp des Suchenden auf dem Weg zur Vervollkommnung. Überflüssiges Material wird mit Hammer und Meissel (auch fm. Symbole) mit weisem Plan und starkem Schlag weggespitzt, um die vollkommene Form zu erreichen.

Soviel zur freimaurerischen Symbolik. In ihrer Botschaft erkennt man unschwer die Denkweise der Aufklärung.

Zum freimaurischen Ritual gehört jedoch ebenso die Esoterik. Sie bedient sich der Sprache der hermetischen Wissenschaften. Ihre Botschaften sind verborgen und für Freimaurer nicht ohne besonderes Bemühen erkennbar. Damit zeigt sich eine weitere Qualität des Symbols. Es kann verschieden interpretiert werden.

Nicht alle FM finden Gefallen an den Aspekten esoterischer Symbolik. Für sie ist FM eine klare Aufforderung, sich auch im Alltag fm. Tugenden zu erinnern. Die unterschiedlichen Auffassungen führen zu permanenten, aber auch spannenden Diskussionen. Es ist eine der Qualitäten fm. Brauchtums, dass es diese unterschiedlichen Interpretationen zulässt. Allerdings: Wer sich in die Materie vertieft, kann meines Erachtens die esoterischen Aspekte nicht verleugnen.

Insbesondere stammen viele Anleihen aus der Alchemie. Die Vorstellung, dass aus unedlem Material hochwertigeres gemacht werden soll, ist Alchemie. Die Suche des Alchemisten nach dem Stein des Weisen entspricht der Arbeit des Freimaurers am rauen Stein. Die Lichtsymbolik, der Gegensatz von Licht und Finsternis, ist gnostisches Gedankengut. Und die reiche Zahlensymbolik in der Freimaurerei kommt aus der Kabbala.

Wir haben zunächst gesehen, aus welchen Wurzen die Freimaurerei schöpft: Aus der Aufklärung und aus der westlichen Esoterik. Anschliessend habe ich versucht, ihnen einen Einblick in die freimaurerische Arbeitsweise, nämlich in die Symbolik, zu vermitteln: Der Bau am Tempel der Humanität. Nun steht noch der Versuch bevor, daraus eine freimaurerische Philosophie zusammenzufassen.

Freimaurerische Philosophie

Der Freimaurer glaubt an das Gute im Menschen und in der Welt und arbeitet an einem besseren Ich und einer besseren Welt. John Locke wird das Zitat zugeschrieben:
„Wenn Freimaurer ihre Kunst recht verstehen, sind sie bessere Menschen als die sie geblieben wären, wenn sie nicht Freimaurer geworden wären.“
Die Freimaurer gehen davon aus, dass es zum Verständnis der menschlichen Natur und des Geschehens in der Welt notwendig ist, eine höhere Macht anzuerkennen. Der Freimaurer arbeitet an sich selbst, um seine Stärken und Schwächen kennen zu lernen. Er bearbeitet seinen rauen Stein
Der Freimaurer soll an sich glauben, auf seine innere Stimme hören und ihr vertrauen, denn sie kennt das moralische Gesetz und ist vernünftig. Jeder Mensch hat ein entwickeltes Moralbewusstsein. „Sapere aude“: Wage zu wissen, habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Denke positiv und du hast Erfolg. Die Maxime stammt von Kant
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und ist der Name einer Zürcher Loge. Man sieht, wie sehr auch heute Aufklärung unser Tun antreibt. Das Übel ist nicht da, um beklagt zu werden, sondern um es zu beseitigen.
Eine bessere Welt heisst auch: Toleranz. Toleranz gegenüber anderen Religionen und politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen, soweit sich diese ebenfalls an den Regeln von Vernunft, Menschlichkeit und Duldsamkeit orientieren.
Eine bessere Welt will auch sagen: Wohltätigkeit. Wohltätigkeit ist eine Sache des Geldes und des Herzens. Sich bereit zu halten gegenüber in unmittelbarer Umgebung vorhandener Not ist eine edle Geisteshaltung. Auch diese soll der Freimaurer üben.
In allen Logen gilt die Regel: religiöse und politische Diskussionen sind zu meiden. Warum? Weil man auch mit unterschiedlichen Überzeugungen von Religion und Politik ein besserer Mensch werden und sich für eine bessere Welt einsetzen kann.
In den alten Pflichten von 1723 heisst es: „Freimaurer sind freie Männer von gutem Ruf und edlem Streben“ und sie sollen sich „nie hineinziehen lassen in Anschläge oder Verschwörungen gegen den Frieden und die Wohlfahrt der Nation“, denn „die Maurerey ist durch Krieg, Blutvergiessen und Wirren immer geschädigt worden“, wogegen sie „stets in Zeiten des Friedens blühte.“
Freimauerei ist keine Religion und auch kein Ersatz für die, welche von der Kirche enttäuscht sind. Freimaurerei ist auf das Diesseits bezogen. Der Freimauer strebt nicht nach einem bequemen Platz im Jenseits, sondern nach einem sittlichen Leben im Diesseits. Er ist aufgefordert, mit dieser Gesinnung tätig zu sein in Familie, Beruf und Gesellschaft.
Freimaurerei ist nicht schöngeistig, sondern sie fordert strenge Arbeit. Sie will das Beste aus dem Menschen herausholen und ihn zu einem glücklichen Individuum machen. Die fm. Lebensschule hat eine Wirkung nach innen und eine nach aussen. Nach innen fördert sie Selbsterkenntnis und Selbstveredelung. Sie regt an, dem Leben einen Sinn zu geben. Nach aussen ruft sie auf zu erhöhter Mitverantwortung an der Gesellschaft.

Arbeitsweisen

Es bleibt noch die Frage, mit welchen Arbeitsweisen FM ausgeführt wird. Im Mittelpunkt steht die rituelle Initiation. Sie vermittelt Erlebnis und Gedankenanstösse. Konferenzen befassen sich im weitesten mit dieser Thematik.
Sodann ist die Geselligkeit ist ein wichtiger Bestandteil im fm. Leben. Dazu sagen die Alten Pflichten: „Die Maurerei ist der Mittelpunkt und Werkzeug, treue Freundschaft unter Menschen zu stiften, die sonst in steter Entfernung voneinander hätten bleiben müssen“.
Die Geselligkeit wird an sog. Tafellogen gepflegt. Sie finden nach vorgegebenen Ritualen statt. In der Frühzeit der Freimaurerei war auch das eine grosse Errungenschaft. Erst mit der
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Aufklärung wurde es möglich, sich in Kaffeehäusern, Tavernen oder in erlauchten Zirkeln frei zu treffen und auszutauschen. Heute wird dieser Sinn für die Geselligkeit leider oftmals vernachlässigt. Die Hetze des Alltags lässt die Musse vergessen, das späte Essen nach den Logenarbeiten, die letzten Zugverbindungen drängen nicht zum Bleiben.
Aber noch gibt es sie, zum Glück, die geselligen Abende im trauten Freundeskreis von Gleichgesinnten. Wem die Zeit dazu zu fehlen scheint, dem ruft Horaz zu: „Lebensglück setzt Lebenskunst voraus.“
Noch ein Wort zum vielzitierten freimaurerischen Geheimnis. Ursprünglich galt dieses dem Bewahren des Fachwissens der operativen Steinmetze. Durch geheime Zeichen und Worte wurden diese vor nichtberechtigten, d.h. nicht ausgewiesenen Fachleuten verborgen. In der modernen FM ist das Geheimnis das persönliche Erlebnis im Ritual, das nicht ausgesprochen werden kann. Es ist auch die Ermahnung, dass nicht alles, was man erlebt, ausgesprochen werden soll, die Verschwiegenheit als Tugend.

Die Freimauerei als Lebensschule

Ich habe versucht, ihnen aufzuzeigen, in welche Richtung sie ihre Absolventen leitet. Diese Schule hat vieles bewirkt und tut es auch heute noch. Wir haben festgestellt, dass diese Mischung von rational und irrational einmalig ist. Allerdings ist diese Denkweise nicht isoliert und nur bei ein paar Millionen Freimaurern, welche es weltweit gibt, anzutreffen.

Zu allen Zeiten und in allen Kulturen hat es Menschen gegeben, die mit dem eigenen Verstand vorwärts kommen wollten, aber auch begriffen, dass die Wirklichkeit auf verschiedenen Ebenen stattfindet.

Ich denke an die Mysterienkulte der Antike, an Eleusis, Isis und Osiris, Mythras, Orpheus usw. Ich erinnere an die Initiationsriten indigener Kulturen aber auch an die Stoa, welche in der Renaissance wiederentdeckt und stark in die Aufklärung eingegangen ist. Die FM hat sehr viel mit ihr zu tun.

Dazu zählt aber auch eine moderne Erkenntnis, jene der Individuation. Der Psychologe C.G. Jung hat den Begriff des Individuationsprozesses geschaffen und damit einen Vorgang in der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit beschrieben, welche sich mit freimaurerischem Bestreben deckt.

Jung selbst war kein Freimaurer. Sein Grossvater war jedoch Grossmeister der Schweizerischen Grossloge, und so kann man wohl annehmen, dass seinem Enkel freimaurerisches Brauchtum nicht unbekannt war.

Nach C.G. Jung durchlebt jeder Mensch in seinem Leben einen Individuationsprozess. Wir kommen als ein Individuum auf die Welt, sind geprägt von unserer Herkunft und werden durch unsere Erbanlagen und die unmittelbare Umgebung und Erlebnisse geprägt. Wir sind gesteuert von Trieben und Komplexen, die unerkannt im Unbewussten lauern oder dorthin abgedrängt werden.

Der Individuationsprozess läuft einheitlich in zwei Stufen ab: In der ersten Lebenshälfte geht es darum, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Es ist die Zeit der Jugend, der Adoleszenz, Gründung einer eigenen Familie, Festigung in Beruf, Gelderwerb, sozialer Stellung. Sind diese Ziele erreicht, kommt leicht die Frage auf: War das alles? Was nun? Viele erleben diesen Moment als Krise der Lebensmitte.

Die zweite Phase ist die Individuation. Es gilt, die früheren Werte zu bewahren und vernachlässigte Aspekte der Persönlichkeit zu entdecken, das Bewusstsein zu erweitern und die Dominanz des Unbewussten zu reduzieren. Die Persönlichkeit soll sich bewusst und auf einem eigenen Weg entfalten. Jungs Erkenntnis: Das „Selbst“ ist Gott in uns, der Individuationsprozess führt zu unio mystica, zur Vereinigung mit dem Göttlichen, wie es eine Inschrift am Tempel in Delphi besagt: „Erkenne dich selbst, und du erkennst Gott“.

Die Freimaurerei kennt den Individuationsprozess. Sie fördert und begleitet ihn. So lauten denn typische Fragen von jüngeren Interessenten für die Freimaurerei, also Menschen, welche sich in der ersten Phase des Prozesses befinden, sehr oft und typischerweise: Kann mir die Freimaurerei die geistige Kraft vermitteln, um im Gewühle des Alltags den rechten Weg zu finden?

Mit 40 oder 50 Jahren, somit in der zweiten Lebenshälfte, lautet eine typische Frage dann: Ich habe erreicht, was ich konnte. Aber das kann ja nicht alles sein. Wie finde ich einen tieferen Sinn des Lebens?

Alle Menschen durchlaufen diesen Prozess. Damit komme ich zurück zum Anfang meiner Ausführungen: Nicht alle Menschen sind gleichermassen erfolgreich. Verläuft die Individuation positiv, reift die Persönlichkeit durch Bewältigung der Konfrontationen im Leben. Verläuft sie negativ, werden Komplexe, Depressionen und Antriebslosigkeit aktiviert. Auch für die Lebensenergie gilt: Energie geht nicht verloren. Sie soll deshalb richtig genutzt werden. Die fm. Lebensschule will dazu verhelfen.

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